Stress regulieren

Aus meiner Praxis:

 

Frau M., die ihren Mann daheim pflegt, weil er an der Alzheimer Krankheit leidet – einer fortschreitenden Störung des Nervensystems: Sie fühlt sich überfordert; denn die nächtliche Unruhe ihres Mannes weckt sie immer wieder auf. Sie verspürt starke innere Anspannung, die zunimmt. Während sie mir erzählt, was sie belastet, löst sich ihre Anspannung sichtbar. Ich frage Frau M., was sie gerade an sich bemerkt und sie sagt, dass es ihr so guttut, dass ihr ruhig und aufmerksam zugehört wird. Sie beschreibt, dass sie sich gerade innerlich wie zurücklehnen kann und sich regelrecht ausruht. Wir erforschen gemeinsam dieses Gefühl und die damit verbundenen Körperwahrnehmungen. Dabei wird Frau M. klar, dass sie mehr Unterstützung für die Pflege ihres Mannes braucht.

In den nächsten zwei Sitzungen geht es darum, den Gedanken „ich muss das alles allein schaffen“ zu erforschen. Nach drei Sitzungen in meiner Praxis folgen drei weitere bei ihr zu Hause. Dabei möchte Frau M. beobachten, wie ich mit ihrem Mann in Kontakt trete und wir wollen herausfinden, ob ihr Mann mit seiner Unruhe etwas ausdrücken möchte. Frau M. vereinbart monatliche Termine in meiner Praxis, weil sie mehr für ihre eigene Belastungsregulierung tun möchte. Diese andere Art mit sich in selbst in Kontakt zu kommen, wirkt sich auch auf ihren Pflegealltag aus und tut damit ihr selbst und ihrem Mann gut.

Herr K., der Magenschmerzen hat und keine Medikamente nehmen will: Er möchte besser mit seiner Arbeitsbelastung zurechtkommen. Eine Untersuchung seines Magens ergab keinen Befund. Herr K. erklärt sich nun seine Magenschmerzen mit der neuen Arbeitsaufgabe. Während er mir von dieser neuen Aufgabe berichtet, verstärken sich seine Schmerzen. Ich begleite ihn durch seine körperlichen Empfindungen mittels Interventionen aus Somatic Experiencing®. Nun empfindet er erstmalig auch Wut. Nach einer weiteren Sitzung wird für Herrn K. deutlich, dass er sich eine andere Arbeitsaufgabe suchen wird. Ich empfehle ihm außerdem, wieder regelmäßig seinem Sport nachzugehen. Später berichtet er, dass sich seine Anspannung nun vom Magen in Arme und Beine verlagert hat, er sich aber durch Muskeltraining und Ausdauersport besser fühlt und seitdem sein Magen völlig schmerzfrei ist. Damit ist Herr K. zufrieden.

Betrachtung der Praxisbeispiele:

Frau M. und Herr K. berichteten zuerst von ihrer aktuellen Situation und ich erfragte, seit wann die gesundheitlichen Veränderungen bestehen. Das entspricht dem analytischen Vorgehen des mechanistischem Paradigmas“  nach dessen Sicht eine Trennung von Organismus und Umwelt gemacht werden muss. Dementsprechend arbeite ich hier mit einem biografischen Fragebogen, mit dem wir nach äußeren Ursachen suchen, den sogenannten „Stressoren“. Frau M. und Herr K. erkannten diese für sich.

Nun hätte ich auch Entspannungsmöglichkeiten vorstellen oder Frau M. über Entlastungsmöglichkeiten zur Pflege informieren und Herrn K. über konfliktlösende Kommunikation beraten können. Doch hier wechselte ich meine Vorgehensweise zur Selbststärkung der inneren Widerstandskraft, womit ich ermöglichte eigene Lösungen zu finden.

In den beschriebenen Sitzungen entdeckte Frau M. jedoch selbst, während sie von dem „Stressor“ erzählte und sich zeitgleich durch meine Anleitung innerlich beobachtete, was sie benötigt. Für Herrn K. war der „Stressor“ seine Arbeitsaufgabe, die er verändern wollte. Doch auch ohne neue Arbeitsaufgabe, konnte er bereits seine innere Spannung regulieren und (s)eine sportliche Lösung finden.

Schlüssel zur erfolgreichen Stressregulation waren in beiden Fällen die körperlichen Empfindungen der Patienten, ähnlich der Somatic Experiencing®-Methode. Meine Vorgehensweise folgte hier dem „systemischen Paradigma“ mit seinem ganzheitlichen, organischen und ökologischen Verständnis des Lebens. Der Organismus wird als ein sich selbst stabilisierendes Ganzes betrachtet, der über das Nervensystem ständig Informationen austauscht. Durch diese Fähigkeit bewahrt er sich und stärkt mittels der neuen Informationen seine innere Widerstandskraft, die sogenannte Resilienz, dies kann dann als Stressegulationsfähigkeit beobachtet werden.

Beide, sowohl das analytische als auch das systemische Modell, hatte ich bereits für sozialpädagogische Beratungssettings methodisch bearbeitet. Im Rahmen meiner Diplomarbeit thematisierte ich: „Was kann ich tun, damit du dir selbst helfen kannst?“ Als ich dann die Ursachen-Differentialdiagnose der Homöopathie und die Somatic Experiencing®-Methode kennen lernte, begann ich beide Vorgehensweisen in meiner therapeutischen Tätigkeit  praktisch umzusetzen.

Ausgewählte Literatur:
  • Gendlin, E. T. : Focusing, Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme, Salzburg, Otto Müller Vlg., 1984
  • Haehl, R., Hrsg..: Organon der Heilkunst, 6. Auflg. von Samuel Hahnemann, Leipzig, Vlg. von Dr. Willmar Schwabe, 1921
  • Johnstone, M.: Resilienz, Wie man Krisen übersteht und daran wächst, Kunstmann Vlg., 2015
  • Levine, P.: Stress, Kapitel 16 in PSYCHOPHYSIOLOGY, Hrsg. Michael G.H. Coles, Emanuel Donchin und Stephen W. Porges, The Guildford Press, New York, Nachdruck; Übersetzung ins Deutsche: Silvia Autenrieth; Copyright der amerikanischen Originalausgabe 1986
  • Morning, A.: Was kann ich tun, damit du dir selbst helfen kannst, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Diplomarbeit an der Katholischen Fachhochschule Berlin, 1997